Das Leselineal (Simonszent) wurde infolge mehrjähriger Forschungsarbeit und aus dem therapeutischen Alltag in der Arbeit mit legasthenen Kindern heraus entwickelt. Es ist im Training multifunktional einsetzbar.
Leseanfänger und viele Legastheniker benutzen eine Lesetechnik, bei der die Laute der einzeln aufeinander folgenden Buchstaben zunächst nacheinander gelesen und dann zusammengefügt werden. Dies wird als alphabetische Lesestrategie (Frith, 1985) bezeichnet (Beispiel: L – E – S – E – N). Das Leselineal (Simonszent) kann als visuelle Fixationshilfe verwendet werden, um Kinder beim Lesen zu unterstützen, die diese Lesestrategie benutzen. Dazu wird das Lineal so unter das zu lesende Wort gelegt, dass zunächst nur der erste Buchstabe sichtbar ist. Anschließend wird das Leselineal Buchstabe für Buchstabe in Leserichtung verschoben, sodass nacheinander die einzelnen Buchstaben sichtbar werden und ein (für den „normalen“ Leseanfänger) interferenzfreies alphabetisches Lesen ermöglicht wird.
Die Zeit, während der ein Wort beim Lesen fixiert wird, kann als Indikator für den kognitiven Prozess der Wortidentifizierung benutzt werden. Dennoch erfolgen auch außerhalb der fovealen Fixation Verarbeitungsprozesse (Fisher & Shebilske, 1985). Parafoveale Informationsaufnahme kommt bereits vorher zum Tragen. Außerdem ist die Verarbeitung nicht automatisch beendet, wenn das Auge zum nächsten Wort springt, sondern findet noch während der nachfolgenden Fixation statt. Rayner (1998) bezeichnet dieses Phänomen als „Spillover Effekt“. Es gibt Hinweise darauf, dass Legastheniker periphere Zeicheninformationen besser verarbeiten können als Normalleser (Geiger & Lettvin, 1987). Dies könnte eine Kompensation der Störungen fovealer Zeichenverarbeitung von Legasthenikern darstellen. Um Legasthenikern diesen möglichen Lesevorteil nicht zu nehmen, kann das Leselineal (Simonszent) bereits auf der alphabethischen Stufe auf eine weitere Art und Weise eingesetzt werden. Ein Steg ermöglicht die Markierung des zu lesenden Buchstabens. Die folgenden Buchstaben werden nicht verdeckt, sodass die parafoveale Verarbeitung nicht unterdrückt wird.
Legastheniker profitieren schon sehr, wenn ein Lernfortschritt vom alphabetischen zum silbenweisen Lesen erfolgt (Beispiel: Le – sen). Es werden nur noch zwei statt zuvor fünf Analyseeinheiten verarbeitet. Dies führt zu einer Entlastung des Kurzzeitgedächtnisspeichers und zu einer Reduzierung der Lesezeit. Diesen Schritt müssen im Übrigen auch Kinder ohne Lese-/ Rechtschreibprobleme auf dem Weg zu einem kompetenten Lesen als Zwischenstufe meistern.
Mithilfe des Leselineals (Simonszent) kann das silbierende Lesen systematisch trainiert werden. Somit wird das Erreichen der nächsten Stufe des Leselernprozesses deutlich unterstützt. Ein Steg im Leselineal ermöglicht die Markierung der Silbengrenzen innerhalb des Wortes, ohne dabei in den Text "hineinmalen" zu müssen. Die einzelnen Silben können so leichter als zusammenhängende Einheiten erkannt und kognitiv abgespeichert werden. Dies führt in der Folge dazu, dass bei wiederholtem Lesen die Abrufgeschwindigkeit für die einzelne Silbe abnimmt und die Lesezeit verringert wird.
Das Lineal kann in einer dritten Funktion verwendet werden, um beim Lesen in der Zeile zu bleiben. Es werden visuelle Interferenzeffekte, die durch Verrutschen der Zeile entstehen können, reduziert. Das Lesen wird erleichtert. Die Verwendung wird für „fortgeschrittene“ Leseanfänger und Kinder empfohlen, die das silbierende Lesen beherrschen. In der Therapie wird der Schritt zum Ganzwortlesen beziehungsweise das Zusammenfassen von einzelnen Silben zu größeren Wortsubeinheiten, Morphemen und Wortstämmen eingeübt.
Literaturnachweis:
Fisher, D. F. & Shebilske, W. L. (1985). There is more that meets the eye than the eyemind assumption. In R. Groner, G. W. Mc Conkie & C. Menz (Hrsg.), Eye movements and human information processing (S. 149-158). Amsterdam: North Holland.
Frith, U. (1985). Beneath the surface of developmental dyslexia. In K. E. Patterson, J. C. Marshall & M. Coltheart (Hrsg.), Surface dyslexia: neuropsychological and cognitive studies of phonological reading (S. 301-330). Hillsdale NY: Lawrence Erlbaum.
Geiger, G. & Lettvin, J. Y. (1987). Peripheral vision in persons with dyslexia. N Engl J Med, 316, 1238-1243
Rayner, K. (1998). Eye movements in reading and information processing: 20 years of research. Psychological Bulletin, 124, 372-422.